Beiträge von Kerstin Braun

Frühe Jahre

Auszug aus dem Beitrag von Kerstin Braun

Der Grazer Jungel orientiert sich zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn nicht nach Wien, sondern nach Deutschland, wo er zunächst bei Adolf Hölzel in Stuttgart studieren will1 und schließlich seine Ausbildung in einem der damaligen Zentren der Neuen Sachlichkeit, in Karlsruhe2 absolviert, sowie nach Paris, der europäischen Kunstmetropole, in der er sich mehrmals aufhält.

Darüber hinaus ist Jungel, der in Graz von 1911 bis 1912 die Landeskunstschule bei dem impressionistischen Maler Alfred Zoff besucht hat, vertraut mit der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts starken Tradition von steirischen Landschaftsmalern, deren Werke sich zwischen Stimmungsrealismus und Impressionismus bewegen. Von ihnen übernimmt Jungel die wirklichkeitsnahe, auf einer unmittelbar visuellen Wahrnehmung basierende Sicht der Natur, die malerisch aufgelockerte Malweise sowie die ausschnitthafte Naturdarstellung und die Wahl einfacher Motive.

Herbst 1923

Dominant ist das Landschaftsmotiv bei Jungel zeitlebens. Dabei transzendiert er die Natur nicht in eine höhere, idealisierte Wirklichkeit, noch verbindet er sie mit der Vorstellung von harmonischer Ursprünglichkeit oder macht sie zum rein subjektiven Ausdrucksträger persönlicher Stimmungen und Gefühle. Der Künstler bleibt ein genauer Beobachter seiner Umgebung, deren Eindrücke er auf unterschiedliche Weise in seinen Bildern festhält und verarbeitet.

Jungels Interesse an der Natur resultiert nicht aus einem Überdruss an der Stadt und der modernen, von technischen Erfindungen geprägten Zivilisation. Im Gegenteil: als, nach den Beschreibungen seiner Zeitgenossen, urbaner Mensch lässt er sich gerade von dem jeweils Aktuellen in der Kunst wie Wissenschaft und Gesellschaftsleben anregen, eine Neigung, die sich von Beginn an in seinen Werken manifestiert – zuerst in den frühen 1920er Jahren, als Jungel wiederholt in die Metropole Paris reist. Dort findet der Student Motive für seine ersten Städtebilder in dem damals hochaktuellen Stil der Neuen Sachlichkeit. Wird das Geburtsjahr der Neuen Sachlichkeit in Österreich mit dem Jahr 19253 festgelegt, gelangt Jungel durch seinen Studienaufenthalt in Karlsruhe früher als seine österreichischen Zeitgenossen in Berührung mit dem neuen Stil, der sich nach der Formrevolte des Expressionismus, Kubismus und Futurismus erneut der genauen, abbildenden Erfassung der umgebenden Welt auch in radikalkritischer oder visionärer Perspektive zuwendet. Der gegenüber dem Grazer Studenten um ein Jahr jüngere Wilhelm Schnarrenberger, der seit 1921 an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe auch Jungel unterrichtet, hat Verbindung zu den gesellschaftskritischen, sogenannten veristischen Künstlern Georg Scholz und Karl Hubbuch, die eine harte, direkt und klar formulierte, entlarvende Bildsprache verwenden. Thematisiert Jungel einerseits in seinen Figurenbildern, die er gegen Ende der 1920er Jahre anfertigt, ebenfalls Menschen am Rande der Gesellschaft, wie Bettler und Invalide, ohne diese jedoch explizit in den Kontext des Ersten Weltkrieges zu stellen4, beschäftigt er sich andererseits mit der sachlichen Schilderung einzelner Stadtszenen in Paris. (Der Blinde-der Lahme-der Taube/Tusche Feder/30 x 39/E.J.26)

Bereits aus dem Jahr 1920 stammt eine „Pariser Straßenszene“ in der der Maler mit ein paar Pinselstrichen das Geschehen auf der Straße einfängt, das über alle Attribute des modernen Lebens verfügt: eilende Passanten, deren dunkle Silhouetten sich gegen die hellere, verwaschene Fahrbahn abzeichnen, Fahrzeuge, einige Schaufenster, vor denen sich Menschen versammelt haben, eine hoch aufragende Litfaßsäule. Hinter der Straße erhebt sich bildfüllend eine Häuserfront, deren ruhige Fassadenstruktur mit den seriell gereihten Fenstern und Gesimsen mehrfach aufgebrochen wird: einerseits durch die schrägen Flächen und Markisen im Erdgeschoß und die auf den Dächern angebrachten großen Plakattafeln, andererseits durch eine leichte diagonale Drehung der gesamten Häuserreihe.

Eine weitere „Pariser Straßenszene“ von 1925 erinnert mit ihrer Perspektive – dem Blick von oben – und den beiden diagonal auseinander laufenden Straßenfluchten, die in einer bildzentralen Kreuzung münden, an das Bild „Metropolis“ (1916/17) von George Grosz, der, vom Expressionismus kommend, zu den Hauptvertretern der sozialkritischen Neuen Sachlichkeit gezählt wird und den Jungel als eines seiner Vorbilder nennt.

Jungel kann sich nach seinen Studienjahren in Karlsruhe, in denen er in den Bereichen dekorative Malerei und Gebrauchsgrafik ausgebildet wurde und auf vielfältige Weise mit aktuellen Strömungen in Berührung kam, beruflich wie künstlerisch etablieren. 1925 gehört er zu den Gründungsmitgliedern des Grazer Künstlerbund(es), der die Förderung künstlerischer Qualität unabhängig von der vertretenen Stilrichtung propagiert. Da seine Mitglieder politisch eine eher konservative Linie verfolgen5, welche letztlich künstlerisch in einer gemäßigten Moderne und einer traditionsverbundenen realistischen oder impressionistischen Malweise zum Ausdruck kommt, ergeben sich wenig Reibungspunkte auch mit der offiziellen Politik des Ständestaates. Jungel, der 1931 zum Vizepräsidenten, 1934 zum Präsidenten des Künstlerbundes gewählt wird, konzentriert sich wie seine KollegInnen bis zur Zwangsauflösung des Künstlerbundes im Jahr 1938 durch die Nationalsozialisten verstärkt auf heimische Landschaftsdarstellungen im Stil des malerischen Realismus.

Der Zweite Weltkrieg

Kerstin Braun

Jungel malt auch im Zweiten Weltkrieg, vor allem während seines Einsatzes bei der Wehrmacht in Russland von 1942 bis 1943. Wie schon im Ersten Weltkrieg, in dem er in Zeichnungen ein unverfänglich entspanntes Soldatenleben hinter der Front dokumentiert oder detaillierte Natureindrücke in seinem Tagebuch schriftlich festhält, blendet er den Krieg mit seinen Greueln vollkommen aus. Die Aquarelle von russischen Landschaften oder Stadtansichten präsentieren einen gegenüber heimischen Landschaftsbildern der Vorkriegszeit völlig gewandelten Stil.

Mittagessen im Felde 1915

Ruinen in Smolensk 1942

Landschaft bei Gleichenberg 1936

Wird das Motiv „Bei Gleichenberg“ noch durch die aufgelockert freie Malweise des koloristischen Realismus der ausgehenden 1930er Jahre bestimmt, so hebt Jungel nunmehr die Motive aus dem Fluss der atmosphärischen Erscheinungen, verfestigt diese – sicherlich unter dem Eindruck einer gänzlich anderen Landschaft – zu breiten, ruhigen Farbbahnen mit horizontaler Dominanz, die vor allem den Winterlandschaften Dauer und Festigkeit verleihen. (Im Vergleich Zeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg und Werke aus dem Zweiten Weltkrieg)

Unmittelbar nach Kriegsende findet Jungel durch die Verlegung der Schule in der er unterrichtet, nach Admont, seine Motive wieder in der Weite der österreichischen Bergwelt. Der Blick des Künstlers, durch das Studium russischer Landschaften schon längst gewöhnt an räumliche Weitläufigkeit, schweift nach der Beschränkung auf das unmittelbar Nächstliegende oststeirischer Bauernhöfe und Landschaftsausschnitte in den 1930er und frühen 1940er Jahren erneut in die Ferne, fängt auch hier zunächst noch Momente einer rein visuellen Wahrnehmung ein, frei von metaphysischen oder idealistischen Überhöhungen: das mächtige Panorama des Gesäuses (1947), die bizarren schroffen Felsformationen der Hallermauern (1948), die ruhige Abendstimmung auf der Grabneralm (1949).

Weiterhin den Prinzipien des malerischen Realismus verpflichtet, jedoch mit beruhigter Pinseltextur, setzt sich Jungel vor allem mit den Wirkungen des Lichts auseinander, welches die Konturen der Dinge leicht verschwimmen lässt und die Einzelheiten zu breiten, malerischen Farbflächen, zu farbigen Licht- und Schattenflächen verschmilzt. (1947 Gesäuse/Öl-Pressplatte)

Anfang der 1950er Jahre bricht für ihn zum zweiten Mal eine Zeit des künstlerischen Experimentierens an, die letztlich zeitlebens andauern soll. Jungel malt Bilder, die eine ganz andere, neue Qualität besitzen. Er tilgt die Werte des Atmosphärischen und beginnt damit, die formalen Ausdrucksmöglichkeiten von Farbe und Linie zu bündeln, indem er die leuchtenden Farben der Aquarellmalerei oder Kreidezeichnung mit Tusche kombiniert. Die neu gewonnene Unabhängigkeit, von den an den Stimmungsrealismus bezw. Impressionismus angelehnten Mitteln des malerischen Realismus führt in den kommenden Jahrzehnten zur starken Betonung des Flächencharakters des Bildes, in dessen Folge Jungel den Schritt zur Abstraktion vollzieht. Der Bildgegenstand tritt in seiner Bedeutung zurück hinter die Ausdrucksmöglichkeiten der bildnerischen Mittel. Linien, Farben und Formen beschreiben nicht konkrete Sinneseindrücke, sondern synthetisieren diese zu vereinfachten, rhythmisierten Flächenstrukturen, innerhalb derer sich die eigentümlichen, wesentlichen Linienverläufe und Formationen der Landschaften erkennen lassen. Es zeigt sich eine übergegenständliche Kompositionsstruktur als abstrahiertes, farblineares System, das die Bildfläche zusammenfasst und gliedert. (1951 Bad am Tieber). Farbige Flächen, jeweils dunkel konturiert, bilden entsprechend ihrer Lagerung und der Rhythmik der Umrisslinien eine farbformale Bildordnung, die sich nur lose an der Wahrnehmungswirklichkeit ihres Gegenstandes orientiert.

Südliche Landschaften

Kerstin Braun

Schon seit den 1920er Jahren unternimmt Jungel immer wieder Reisen ans Mittelmeer. Hier faszinieren ihn das Licht und die Farben der südlichen Vegetation und des Meeres. Neben der Landschaft wendet er sich immer wieder Küsten- und Hafenmotiven zu, die er in vielen traditionell mimetischen Bildern im Sinne des malerischen Realismus wiedergibt. (Boote am Strand). Andererseits unterzieht Jungel, seinen neuen künstlerischen Absichten folgend, auch das südliche Landschaftsmotiv formalen Transformationen. Während er dieses um 1950 mit vereinfachten Formen und kräftigen, opaken Farben gestaltet, die er mit breitem Pinselstrich zu einer malerisch-flächigen Textur aufträgt, dominiert in dem Grafikzyklus „Kleine Reise nach dem Süden“ von 1953 bereits eine ins Ornamentale gehende Stilisierung der Motive.

Bis gegen Ende des Jahrzehnts entwickelt Jungel diese Formensprache einer starken Vereinfachung und Schematisierung in mehreren Ölbildern weiter.

In den 1960er Jahren beginnt Jungel mit ungewöhnlichen Perspektiven die formalen Möglichkeiten einer autonomisierten Bildsprache zu erweitern. Die intendierte Abkehr von der mimetischen Repräsentation der Wirklichkeit zugunsten einer Präsentation der dem Medium Malerei immanenten Eigenschaften stellt sich dabei als Ergebnis einer besonderen Wahrnehmungssituation dar: dem mehr oder weniger senkrechten Blick aus großer Höhe auf die Welt.

Die Bilder „Anflug auf eine Stadt“ und „Stadtansicht aus der Vogelperspektive“ verraten diesen schon durch ihren Titel.

Annäherung an das Abstrakte

Kerstin Braun

Das €uvre Jungels, wie es seit den 1950er Jahren entstanden ist, lässt eine charakteristische Tendenz zur Lösung von mimetischer Gegenständlichkeit als Stilisierungsprozess bis hin zur Entfaltung einer stark abstrahierten bezw. vollkommen abstrakten Bildstruktur vefolgen. Rückblickend erklärt der 85-jährige Künstler jedoch, dass er von der rein abstrakten Malerei bald abgekommen sei, da er mit ihr sein inneres Wesen nicht auszudrücken vermochte. (Interview mit Frau Dr. Gröblbauer vom ORF am 8.5.1978). Schon der von Jungel zur Charakterisierung seines Schaffens selbst gewählte Begriff des „ornamentalen Symbolismus“ verdeutlicht, dass für ihn die Malmittel – die Farben, die Farbflächen, die Formen, die Linien – nicht nur einen autonomisierten, sondern immer auch einen auf die Außenwelt bezogenen Charakter besitzen. Damit steht er durchaus in Übereinstimmung mit der österreichischen Kunst, welche das rein Abstrakte in den meisten Fällen vermeidet, wie es die internationale Moderne des 20. Jahrhunderts in ihrer Suche nach der ausschließlich selbstreferentiellen, d. h. eben nicht auf etwas ausserhalb Stehendes verweisenden Form und der reinen Farbe ausbildet.

Trotzdem sind eine Handvoll Bilder – vorrangig in der Technik des mit Tusche oder Kohle kombinierten Aquarells – entstanden, die man als abstrakt bezeichnen kann, d.h. deren Formensprache weitgehend autonom ist. Ein paar von diesen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Jungel transformiert das phänomenale Wirklichkeitsgefüge auf mehreren Wegen, wobei die Formensprache der jeweiligen Bilder zwischen systematischen, ordnenden Bemühungen und intuitiver Expression angesiedelt ist. Ausgeformtes und Informelles, zeichnerische Chiffre und farbige Arabeske, kleines Detail und großzügige Geste stehen nebeneinander. Dabei wendet sich der Künstler vor allem der Visualisierung flüchtiger, dynamischer oder unsichtbarer, visuell und dinglich nicht greifbarer Phänomene zu. Themen wie der Kosmos, die elementären Kräfte der Natur, physikalische Prozesse oder innere Vorgänge des Menschen werden in der Welt von Linien, Farben und Formen anschaubar gemacht.

Die Formensprache des Bildes „Das Kleine regiert“ (1970) ruft ebenso Weiler ins Gedächtnis, der selbst um 1960 zu einer neuen Freiheit der Mittel und Thematisierung von Landschaften jenseits des abbildenen Bezugs auf die äußere Form gelangt. Auf flächig aufgetragene, zum Teil durchscheinende Farbfelder in Rot und Blaugrau, die große Teile des hellen Bildgrundes freilassen, setzt Jungel mit dem Pinsel graphische, kleinteilige Formen, die entfernt an vegetable Stukturen, Äste und Blattwerk verweisen.

  1. Adolf Hölzl, der vom Impressionismus und Jugendstil kommend unter dem Einfluss der Nabis und von Malern wie Robert Delaunay zu einem abstrakten Spätwerk kam, unterrichtete seit 1906 an der Stuttgarter Kunstakademie und wurde 1919 pensioniert. Er setzte zwar mit Privatstunden seine Lehrtätigkeit fort, war aber zu der Zeit, als Jungel nach Stuttgart gehen wollte, erkrankt.
  2. Jungel studierte an der Badischen Landeskunstschule in Karlsruhe bei August Babberger (Dekorative Malerei ) und bei Wilhelm Schnarrenberger (Gebrauchsgrafik)
  3. Vgl. Klaus Schröder: Neue Sachlichkeit Österreich 1918 – 1938, Kunstforum Bank Austria Wien 1995.
  4. Vgl. den Beitrag „ Porträts und Figurenbilder“ von Harald Jurkovic im vorliegendem Text.
  5. Jungel gehörte der Christlich Sozialen Partei Österreichs an und war in der Vaterländischen Front, später bei den Ostmärkischen Sturmscharen tätig (siehe „Stationen eines Künstler“ von Minnegard Kirchmauer)